Sebastian Redecke,
Redakteur der Architekturzeitschrift BAUWELT
und Cousin der Künstlerin
Im Leben von Tatjana Schülke nimmt die Neugier einen breiten Raum ein. Sie zeigt sich mir vor allem in ihrer Begeisterung und Freude an Objekten jeglicher Art und deren Materialbeschaffenheit, die sie inspiriert, modifiziert und verwandelt. Sie bilden eine Basis für ihre Arbeiten.
Tatjana Schülke ist umgeben von Dingen, die sie liebt, mit denen sie sich verbunden fühlt und die eine Geschichte erzählen. Darunter befinden sich auch vertraute Alltagsgegenstände. Aus diesen entstand eine Serie kleiner Wandobjekte mit Zollstöcken, die sie mit einer subtilen Ordnung plastisch auf eine andere Ebene hebt. Ebenso entstanden Wandobjekte auf der Basis unzähliger kleiner Gummibänder, die kaum noch als solche erkennbar sind. Eine faszinierende, sensibel komponierte Arbeit mit kleinen Nuancen, die den genauen Betrachter in Erstaunen versetzt und die wie viele ihrer Werke durch räumliche Kompositionen eine ganz andere, nun sehr plastische, niemals aufdringliche Kraft erlangt. Ihre Arbeiten der letzten Jahre basieren auf ordnenden, strukturierenden und raumbildenden Ideen. Sie sind von Leichtigkeit, von einer gewissen Fragilität geprägt. Bei den größeren plastischen Arbeiten gesellt sich das technisch-konstruktive Thema hinzu, das Tatjana Schülke mit vielen Studien am Objekt perfektioniert. Es können sogar statische Herausforderungen sein, die von ihr regelrecht erforscht werden, wie es die zwei großen Installationen in dänischen Wissenschaftszentren vor Augen führen.
Tatjana Schülke liebt den Austausch. Sie erzählt uns allen temperamentvoll ihre Erlebnisse mit ihren Objekten, die sie umgeben und öffnet sich mit großer Herzlichkeit dem Miteinander, den vielen ihr in Freundschaft verbundenen Menschen, die sie voller Enthusiasmus und mit großer Offenheit immer wieder neu in ihre Beobachtungen und in ihre künstlerische Welt einbindet.
All dies ist als Hintergrund unerlässlich, um in jede ihrer Arbeiten tiefer eintauchen. Eine deskriptive Betrachtung ist viel zu wenig und erfasst nicht das Wesentliche.
Diese Publikation fasst ihre Plastiken, Wandobjekte, Reliefs und die zwei großen Rauminstallationen in Dänemark zusammen. Sie verschmelzen wie selbstverständlich zu einer Einheit von großer Prägnanz.
Sebastian Redecke,
Editor of architecture magazine BAUWELT
and cousin of the artist
In the life of Tatjana Schülke, curiosity plays a significant role. To me, she shows it above all in her enthusiasm for and joy in objects of every kind, and in their material characteristics, which inspire her, and which she modifies and transforms. They form the basis for her work.
Tatjana Schülke is surrounded by things that she loves, things she feels connected to and which tell a story. And these include familiar everyday objects. From such things, she created a series of small wall objects made of yardsticks, which she elevates to another level in a subtle arrangement that lends them something sculptural. In a similar process, other wall objects have been created using countless small elastic bands, their original form only barely recognisable. A fascinating, sensitively composed work with small nuances that throws the onlooker into a sense of wonderment, and which, like many of her works, achieves an impact through its spatial composition that is different, at once very sculptural, and powerful but never overpowering.
Her works from recent years are based on regulative, structuring and space-filling ideas. They are marked by lightness, by a certain fragility. Her larger, plastic works are accompanied by a technical-constructive theme with which she has reached perfection through many studies carried out on the object. She might even be examining static challenges, as the two large-scale installations in Danish research centres so clearly show us.
Tatjana Schülke loves exchange. With gusto, she tells all of us about her experiences in her objects, which surround her, and in them she opens herself with great warmth towards togetherness, towards the many people that are connected with her in friendship, whom she brings in again and again to her observations, to her artistic world, full of enthusiasm and with great openness.
All of this is vital as background, so that one can immerse oneself deeper in her works. A descriptive observation is far too little and does not touch upon the essential.
This publication includes her sculptures, wall objects, reliefs and the two large room installations in Denmark. They merge together naturally to from a unity of great concision.
Matthias Reichelt,
freier Kulturjournalist
„Endlich mal wieder nichts verstehen“1, lautete der Titel einer Kampagne, die die Werbeagentur Publicis Pixelpark für den Hamburger Kunstverein Anfang 2017 entwickelt hat. Ein solcher Satz betrifft eine Art von Kunst, die über sich hinausweisen will, auf das Politische zielt und ein kontextuelles Wissen voraussetzt. Davon hebt sich eine andere Sorte von Kunst ab, deren ästhetischer Charme erst einmal voraussetzungslos funktioniert, um dann bei intensiverer Beschäftigung die Assoziationsmaschine bei den Betrachtern anzuwerfen. Solche Kunstwerke begeistern, betören, irritieren aufgrund ihrer ästhetischen Erscheinung und ihrer visuellen Kraft. Diese Kunst betreibt auch Tatjana Schülke. Ihre Objekte und Skulpturen repräsentieren nichts außer sich selbst. Sie stehen und liegen auf Sockeln, hängen an der Wand ohne jede über sich hinausgehende Behauptung. Sie sind einfach präsent, wollen betrachtet, bestaunt, intuitiv begriffen werden, im Sinne eines haptischen Verstehens. Dem intuitiven Verstehen oder „Begreifen“ folgt dann ein Prozess, den Ernst Bloch für ein anderes Genre, nämlich den Detektivroman, so überzeugend beschrieben hat: „Etwas ist nicht geheuer, damit fängt das an. Forschend Aufdeckendes ist freilich nur das eine, es geht aufs Woher. Forschend Heraufbildendes wäre das andere, es geht aufs Wohin.“2
Tatjana Schülkes Objekte und Skulpturen bergen das Geheimnis ihres Materials, geben Rätsel auf, denn nur „im Gewohnten bewegt man sich blind“.3 Stuck in Red lautet der Titel einer Skulptur, die sich als filigranes und luzides Werk präsentiert. Ein Körper, dessen Umrisse sich aus einem roten Netz, bestehend aus unterschiedlichem und nie gleichförmig geratenem Lochwerk, formen. Das längliche Objekt wölbt sich nochmals nach innen und umschließt somit einen röhrenähnlichen Raum. Farbe und Form fügen sich zu einer imposanten Figur, die assoziativ an molekularbiologische Strukturen denken lässt.Form follows function lautete ein Gestaltungsprinzip, das oftmals dem Bauhaus zugeschrieben wird, weil es von Teilen seiner Vertreter beherzigt wurde. Indessen geht die Proklamierung dieser Forderung auf einen Essay des US-amerikanischen Bildhauers Horatio Greenough in der Mitte des vorletzten Jahrhunderts zurück.4
In der Kunst spielt die Funktion keinerlei Rolle, Kunst ist von einer unmittelbaren Funktion befreit. Dennoch erwähne ich das in Design und Architektur hochgeschätzte Prinzip im Zusammenhang mit Tatjana Schülkes Skulpturen, da sie auf Material zurückgreift, dessen Existenz einem blanken Utilitarismus und Funktionszwang unterworfen ist. Läden für Künstlerbedarf liegen eher nicht im Fokus ihres Interesses. Das geeignete Material, aus dem die Künstlerin ihre raffinierten Skulpturen und Objekte baut, findet sie in den großen Hallen der Baumärkte. Industriell hergestellte Massenware, ob aus Kunststoff, Metall oder Papier, bieten vielfältige Arten der Modifizierung und der produktiven und künstlerischen Zweckentfremdung. Tatjana Schülke ist eine Meisterin der Zweckentfremdung und greift unter anderem auf Styrodur zurück, einem Dämmstoff, der beim Hausbau im Dachbereich eingesetzt wird. Die Beschaffenheit von Pappwabenplatten ist für ihre skulpturalen Objekte und Bilder ebenso interessant wie Produkte, die nicht als Material zum Verbauen, sondern fertig zum Einsatz beim Endverbraucher bereitstehen. Allerdings werden diese letztgenannten industriellen Produkte, darunter so schnöde Instrumente aus dem Sanitärbereich wie Saugglocken aus Gummi, im Volksmund auch als Pömpel bekannt, nicht im Duchamp’schen Sinne des Readymades verwandt, sondern zusammen mit anderem Material zu einem Werk weiterverarbeitet. Eine Skulptur besteht aus einer Akkumulation vieler Pömpel, die mit ihren Öffnungen und der rosaroten Farbe an ein chirurgisch herausgetrenntes Herz erinnert.
Tatjana Schülke erliegt dem profanen Charme der Formen, der Vielseitigkeit und Flexibilität und der Struktur des Materials, um sich derer zu bedienen, sich inspirieren zu lassen und letztlich daraus ihre ästhetisch spannenden Objekte zu komponieren. In den meisten Fällen verbergen die Werke dank der künstlerischen und regelrecht zauberhaften Verarbeitung sehr erfolgreich die Stofflichkeit des innewohnenden Ursprungs. Zu den Ausnahmen gehören die quadratischen Wandskulpturen aus Zollstöcken. Eine davon gestaltete Schülke zu einem konstruktivistisch anmutenden und mehrschichtigen wie labyrinthischen Gitterwerk. Dieses vorwiegend weiße Quadrat verbirgt seine Herkunft nicht, denn Schülke hat die zweifarbige Textur der Maßskalen als Bildelement in dieses Wandobjekt integriert und der abstrakten Form somit eine Note mit realistischer Figuration hinzugefügt. Etwas anders verhält sich das bei dem Relief als Farbspiel in diversen Rot- und Weißtönen. Die runden und verschiedenfarbigen Enden der unterschiedlich beschnittenen Zollstockglieder sind zur Bildoberfläche komponiert. Diese wirkt wie die Luftaufnahme einer mittelalterlichen Stadt, in der die Häuser sich eng aneinanderschmiegen. Ein Blick von der Seite offenbart auch hier die Reste der Maßskalen. Der Begriff der Spannung kann bei Schülkes Arbeiten auch auf deren ästhetische Oberflächen Anwendung finden, da dort optische Gegensätze gleichberechtigt aufeinanderstoßen. Poröse neben glatter Oberfläche, dunkle neben heller Farbgestaltung, Positivform neben Negativform als Beispiele fügen den Objekten eine innewohnende und reizvolle wie spannungsgeladene Beziehung zwischen den kontrapunktischen Elementen hinzu.
Ein grünes, liegendes Objekt offenbart einen geschlossen hermetischen Block auf der einen und auf der anderen Seite ein kompliziertes, in mehreren extrem spitzen Elementen auslaufendes Innenleben. Handelt es sich womöglich um einen Stecker, der eines Komplementärs bedarf? Massivität, Glätte und Flächigkeit und dann ein Konglomerat an konisch zusammenlaufenden Spitzen. Das signalisiert sowohl Abwehr als auch höchste Form der Verletzbarkeit, garniert mit einem Schuss Aggressivität. In welcher Reihenfolge sich Betrachten, Erstaunen über Form, die visuellen Rätsel, das gedankliche Abtasten nach Assoziationen und konnotativen Referenzen abspielen, ist wahrscheinlich je nach betrachtender Person, ihrer Kunstnähe oder -ferne verschieden. Doch irgendwann stellt sich die Frage nach der Materie des Werks und seiner Beschaffenheit. Und wenn Kunstwerke Fragen über Gegenstand und Material evozieren, kann das ein guter Einstieg sein für eine weitere Auseinandersetzung mit dem Werk. Und langsam dämmert es und die Festplatte des Gehirns ruft das Stichwort Friedhof auf, denn die grünen Spitzen, die aus runden Körpern hervortreten, sind die Unterseiten sogenannter Grabvasen aus Polyethylen, jeweils mit Spießen ausgestattet zwecks Verankerung im Erdreich des Grabes.
Zu Clustern geschichtete Elemente rufen Bilder von Wachstum durch Zellteilung ab und erinnern damit an natürliche Vorgänge sowohl in mikro- wie auch makrobiologischen Dimensionen. Aus dem Meer angespülte Pflanzenteile formte und trocknete Schülke zu Kugeln, bevor sie die fellähnliche Oberfläche mittels Ponal härtete und die akkumulierten Teile zu einer Skulptur montierte, die die Assoziation von Atomclustern und Wachstum evoziert. Bei dem gewundenen, schlauchförmigen Körper, engmaschig mit bedrohlich wirkenden weißen Stacheln besetzt, könnte es sich um ein aus der Tiefe des Ozeans heraufbefördertes Korallentier handeln. Oder ist es eher eine Gift absondernde und fleischfressende Pflanze? Tatjana Schülke gefällt das Spiel der freien Assoziation, das ihre Arbeiten bei den Betrachtern auslöst.
Ihr Werk zeichnet sich in Gänze durch die Lust am Spiel mit Material und Formen aus. Es verbindet Gegensätze in der ästhetischen Gestaltung zu spannungsgeladenen Arbeiten.
Matthias Reichelt,
freelance cultural journalist
“Finally understanding nothing”1, is the title of a campaign that the advertising agency Publicis Pixelpark developed for the Hamburger Kunstverein (Hamburg Art Association) at the beginning of 2017. It is a sentence that one could also use to talk about a kind of art that aims to extend its frame of reference beyond itself, aspires to be political and for which contextual knowledge is a prerequisite. But there is another type of art that sets itself apart from this, whose aesthetic charm first of all works completely without prerequisites, to then trigger into action the observer’s association machinery, as it were, upon more intense examination. Such works of art are exciting to look at, are beguiling, and bemuse the viewer with their aesthetic appearance and their visual power. This is the kind of art that Tatjana Schülke creates. Her objects and sculptures represent nothing but themselves. They stand or lie on bases, or hang on the wall without asserting a single claim beyond their own being. They are simply present, and they want to be looked at, wondered at, understood intuitively in the sense of a haptic understanding. Intuitive understanding or “grasping” is then followed by a process that Ernst Bloch once used so convincingly to describe another genre, namely the detective novel: “Something is uncanny – that’s how it begins. Revealing something by researching it is of course one thing and is all about discovering the where from. Researching further to deduce what is to come is the other thing, and is about the where to.”2
Tatjana Schülke’s objects and sculptures hold within them the secret of her material, present us with puzzles, because it is “only among the familiar that one moves blindly.”3 Stuck in Red is the title of one sculpture, a filigree and lucid work. A corpus whose contours are formed by a red net-like material, the holes in which are always different and never uniformly shaped. This elongated object curves in on itself, creating a tubular space in the process. Colour and form work together resulting in an imposing figure that triggers associations with structures found in molecular biology.
Form follows function is the design principle that is often ascribed to Bauhaus, because it was a principle heeded to by many Bauhaus followers. However, the demand proclaimed in these words actually goes back to an essay by US sculptor Horatio Greenough and the middle of the 19th century.4
Function plays no role whatsoever in art. Art is released from serving any immediate function. And yet, I have mentioned this principle – which is thought very highly of in design and architecture – in connection with the sculptures of Tatjana Schülke, as she uses material whose existence is subjugated to a naked utilitarianism, forced to be functional, as it were. Stores selling art supplies therefore don’t tend to be that interesting for Tatjana Schülke. The material she prefers for creating her ingenious objects and sculptures is to be found in the huge halls of DIY stores. Industrially produced mass goods, whether plastic, metal or paper, provide for manifold ways to be modified, and serve well the act of productive and artistic misappropriation. Tatjana Schülke is a master of misappropriation and uses, among other things, styrodur, an insulating material that is generally used in house construction for roofing. The consistency of paperboard honeycomb is just as interesting for her sculptural objects and pictures as products that are not supplied as material but are ready-to-use for the end consumer. However, this latter group of industrial products, which include such unattractive instruments as the rubber plunger used in sanitary work, are not applied in the same way as a Duchamp Readymade, but are processed together with other materials to create a work. One sculpture consists of an accumulation of several plungers that, with their openings and red-coloured rubber, are reminiscent of a heart that has been removed surgically from the body. Tatjana Schülke succumbs to the charm of the forms, to the versatility and flexibility and structure of the material, in order to serve herself from it, be inspired by it and, ultimately, in order to compose her aesthetically fascinating objects from it. In most cases, the works very successfully conceal the materiality of their intrinsic origin, thanks to the artistic and the absolutely magical way in which the material has been worked on and worked with. Exceptions here are the square wall sculptures made of yardsticks. Schülke has designed one of these in such a way as to transform it into a constructivist-like and multi-layered, as well as labyrinthine piece of latticework. This mainly white square does not conceal its origin, as Schülke has integrated the two-coloured texture of the measuring markings into the wall object as a visual element, thus adding to the abstract form a touch of realistic figuration. The colour-play in various tones of red and white in the relief behaves somewhat differently. The rounded and variously coloured ends of the differently cut sections of yardstick are composed to create a visual surface. The image thus created reminds one of the aerial view of a medieval city with the houses snuggled closely together. Viewing it from the side also reveals the remainder of the measuring markings here. The term ‘tension’ can also be used in Schülke’s works to refer to their aesthetic surfaces, as visual contrasts encounter one another there on an equal footing. We see, for example, porous alongside flat surfaces, dark alongside light colour schemes, positive form next to negative form, which add to the objects an intrinsic and appealing, as well as tension-filled relationship between the contrapuntal elements. A green, lying object presents us with a closed, hermetic block on the one hand, and a complicated interior squeezing outwards in the form of several extremely sharp elements on the other. Is it perhaps a plug that requires its complementary? Solidity, smoothness and flatness, and then a conglomeration of sharp ends tapering to converge with one another. This signalises not only something defensive, but also the highest form of vulnerability, garnished with a touch of aggression.
The order in which the acts of looking, wondering at the form, the visual puzzle, the mind’s reaching out for associations and connotative references unfold is no doubt different, depending on the person looking, their proximity or their distance to art. However, at some point the question arises concerning the material of the work and its properties. And when works of art provoke one to ask questions about object and material, this can be a good point of entry for grappling more intensely with the work itself. And slowly it dawns upon us, and our brain retrieves from its hard drive the word ‘cemetery’, recognizing the sharp green tips protruding out of the round bodies as the bottoms of polyethylene grave vases, which are spiked so that they can be driven into the earth surrounding our loved ones’ last resting place.
Elements layered into clusters evoke images of the growth created by cell division, reminding one of natural processes in both micro- and macro-biological dimensions. Schülke dried plant parts washed up by the sea, shaping them into balls before hardening the fur-like surface using glue and mounting the accumulated parts to make a sculpture that evokes in our minds associations with atom clusters and growth. The winding, hose-like corpus, covered densely with menacing-looking white spikes might just be a coral creature swept up from the depths of the ocean. Or perhaps it is a meat-eating plant that secretes poison? Tatjana Schülke loves to play with the free associations that her works trigger in the onlooker.
Her work is marked as a whole by a love of playing with material and forms. It brings together in its aesthetic design the contradictory, bringing forth works that are charged by tension.
1 http://www.publicmarketing.eu/news/detail.php?rubric=News&nr=19538
[zuletzt abgerufen am 14.12.2017]
2 Ernst Bloch, Philosophische Ansicht des Detektivromans.
In: Derselbe: Verfremdungen I. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1970 [1962] S. 60.
3 Albrecht Fabri, Kleine Wortguirlande für Max Ernst.
In: Ingeborg Fabri, Martin Weinmann, Albrecht Fabri – Der schmutzige Daumen.
Gesammelte Schriften. Frankfurt/M.: Zweitausendeins 2000, S. 131.
4 Vgl. Erle Loran, Introduction, in: Harold E. Small (Hrsg.),
Horatio Greenough: Form and Function: Remarks on Art, Design, and Architecture,
Berkely, Los Angeles, London: University of California Press, 1947, S. 17.
1 http://www.publicmarketing.eu/news/detail.php?rubric=News&nr=19538
[last accessed on 14.12.2017]
2 Ernst Bloch, Philosophische Ansicht des Detektivromans.
In: Derselbe: Verfremdungen I. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1970 [1962] p. 60.
[The original quotation in German – “Etwas ist nicht geheuer, damit fängt das an.
Forschend Aufdeckendes ist freilich nur das eine, es geht aufs Woher.
Forschend Heraufbildendes wäre das andere, es geht aufs Wohin.”
was translated by the translator herself for this text.]
3 Albrecht Fabri, Kleine Wortguirlande für Max Ernst.
In: Ingeborg Fabri, Martin Weinmann, Albrecht Fabri – Der schmutzige Daumen.
Gesammelte Schriften. Frankfurt/M.: Zweitausendeins 2000, p. 131.
4 See Erle Loran, Introduction, in: Harold E. Small (publ.),
Horatio Greenough: Form and Function:
Remarks on Art, Design, and Architecture, Berkeley, Los Angeles, London:
University of California Press, 1947, p. 17.
Dr. Birgit Möckel,
Kunsthistorikerin
Zum Greifen nah zeigen sich die Werke von Tatjana Schülke. Ihre Objekte setzen sinnlich taktile Reize, (ver)locken mit allem, was an ungeahnten Möglichkeiten in ihnen steckt und wissen sich doch vor zu viel Nähe und Einsicht zu schützen. Mit einem sensibel austarierten Spannungsfeld aus Form, Material und Intuition eröffnen die Arbeiten weite Wahrnehmungs- und Erfahrungsräume in einem beziehungsreichen Kosmos kommunikativer und durchaus lebensnaher Prozesse und Strukturen.
Ob schichtenreich gebaut und geschnitten, modelliert oder mit Versatzstücken aus dem Alltag zu anziehenden Werken verwoben – immer werden Grenzen ausgelotet: zwischen innen und außen, im Mit- und Gegeneinander von Stofflichem und Immateriellem, von Gravitationskräften, Materialeigenschaften und – nicht zuletzt – Erwartungshaltungen, die mit Leichtigkeit und Freude an der Verwandlung unterwandert werden und vermeintlich Bekanntes neu erfahrbar machen.
Tatjana Schülkes Arbeiten führen mit überraschenden Außenperspektiven, Innenleben und Ausstülpungen, organischen und architektonischen Bezügen eine nicht orientierbare Mannigfaltigkeit fort, die sich in der Mathematik vielleicht beispielhaft im Möbiusband und seinen Ableitungen manifestiert. Im Werk der Künstlerin darf dieses modellhafte Band weiter wachsen – zu ungeahnten Ballungen, Vernetzungen oder wolkigen Gebilden, die Starres und Weiches federleicht zusammenführen und erlebbar machen, was zwischen den mit all ihren Objekten gepaarten Zeichen mitschwingt. Völlig losgelöst von konstruktiven Vorgaben, zeigen sich lineare Abläufe in freien Rhythmen, eng gebündelt, lose komprimiert oder verpuppt und gleichsam skriptural oder graphisch einem Relief einverleibt sowie – in großen Dimensionen – scheinbar lose mit der Architektur und dem gebauten Raum verwoben.
In jedwedem Maßstab wachsen Ideen und Gedankenstränge zu räumlichen Bildern, zeigen sich als Knotenpunkte, Denk- und mit ihnen verwobene Assoziationsräume. Beispielhaft sind die jüngsten Kunst am Bau-Projekte der Künstlerin. So „The Red Rope“, ein architekturbezogenes überdimensionales rotes Tau, das sich locker um ein imaginäres Zentrum einer an den Schiffsbau angelehnten offenen, transparenten Architektur zu legen scheint, damit ideenreich seine zu steten Ortswechseln aufgerufenen Nutzer zusammenhält und sie spielerisch motiviert, an einem Strang zu ziehen oder festgefahrene Denkmuster wie Knoten zu lösen. Kurz: Auch das komplexeste Miteinander wird in zeitlosen Bildern visualisiert, ähnlich einer signalroten sprechblasengleichen Wolke, die in einem anderen Bildungszentrum die digitale „Cloud“ aus dem kaum greifbaren virtuellen Wolkenmeer holt und in bekannten Lettern und ihren sprachlichen Möglichkeiten über den Köpfen der Menschen leuchtendrot fasst und analog verortet.
Die Suche und Neugier nach dem, was in und hinter den Formen steckt, führte die Künstlerin von der Malerei zunächst zu reliefierten Bildern, die sie mit Kapa-Platten aufbaute, aus denen sie ein dialogisches Miteinander von Form und Leere, Umriss und Fläche, Licht und Schatten, materiellen und immateriellen Impulsen beziehungsreich schnitt und formte. Damit war das Fundament zu skulpturalen Arbeiten gelegt. In der Folge entstanden objekthafte Reliefs und Skulpturen, die mit und am Material das Spiel der Gegensätze und damit verwobene Erwartungshaltungen immer neu ausloten und in Frage stellen.
In aktuellen Werkblöcken und Reihungen öffnen sich so folgerichtige wie zufällige Nahtstellen. Geheimnisvolle Organismen entwickeln ein Eigenleben: ganz dicht oder weit offen, in loser Ordnung, zufällig, entschieden, flexibel, gefestigt oder gebaut. Innere Stabilität zeigt sich als schmiegsames Miteinander. Kreisrunde Rohre führen zielsicher, geradewegs oder erschlafften Tentakeln gleich nach außen und ins Dunkel, um aus dem tiefsten Inneren zu kommunizieren und ungeahnte Verbindungen in die Welt zu knüpfen. Maßeinheiten navigieren den Betrachter zentimetergenau in ein Dickicht von undurchdringlichen Gitterstrukturen, die sich jedem Kalkül entziehen. Lineare oder in prallen Kugelformen angelegte Motive eröffnen Fragen nach Zusammenhängen und Zusammengehörigkeit. Sie lenken den Blick in lose über-, neben- oder aneinander gelegte Schichten auf ihre Ursprünge, auf Gewebe, Stoffliches oder Textfragmente, um darüber hinaus einfach sich selbst zu sein oder im Wechsel von Licht und Schatten eine Vielzahl an Oberflächenmodulationen erfahrbar zu machen. Andernorts sprießen dicht an dicht spitze Stacheln aus weichen organischen Rundungen. Pralles Leibliches quillt aus kantigen Kuben. Ein stacheliges Feld setzt sich just neben offenporiges schwammiges Material und findet so den idealen Partner während an anderer Stelle eine tropfende Masse, feingliedrige Ringe und widerspenstige Fransen in purer Farbe erstarren. Unvermutet befruchten sich genormte grüne Steckvasen und Pflanzenschwämme oder andere Alltagsutensilien aus dem überreichen Fundus der Welt als so nie gesehene, eng verzahnte Systeme, in denen spielerische Stringenz von Form und Inhalt treffsicher und nicht selten lustvoll hintersinnig zu neuen Wahrnehmungsimpulsen führen.
Jedes Material setzt eigene, überraschende Seherfahrungen und Erkenntnisse, die, in Farbe, Pigment, Klebstoff oder Wachs getränkt, sich herkömmlichen Erwartungen, Logik oder Gravitationskräften entziehen und zu Neuem mutieren, das seine Spannung aus dem Zusammenspiel von Energie, Form sowie dem dazu gehörigen Kolorit erhält und Staunen macht. Getaucht in eine reduzierte Farbskala von wächserner Transparenz, über brüchigem Weiß, hellem Grau, Schwarz, Grün, gedämpftem Türkis bis zu einer größeren Bandbreite an Rottönen – die zwischen Haut- und Signalcharakter changieren – erzählen die Werke nicht zuletzt auch von Zeit, Raum, Kontinuität und einem im Werk festgehaltenen Augenblick inmitten des weitgespannten Miteinanders äußerer wie innerer Impulse, die Tatjana Schülke auf sehr lebendige Weise mit großer Sensibilität für das Mögliche evoziert: Es gibt kein Außen ohne Innen.
Dr. Birgit Möckel,
art historian
The works of Tatjana Schülke invite a tactile response. Her objects generate sensual stimuli, they entice with all the unimagined possibilities that reside in them, and yet they know how to protect themselves from too much proximity or insight. With their sensitively balanced tensions between form, material and intuition, the works open vast spaces of perception and experience in a relationship-rich cosmos of communicative and thoroughly lifelike processes and structures.
Whether built up in slices, layer upon layer, modelled or interwoven with moveable pieces from everyday life, boundaries are always explored: between the interior and the exterior, in the coexistence and opposition between material and immaterial, between gravitational forces, material properties and expectations that are infiltrated with a lightness and joy in transformation and that make from the seemingly known something to be experienced anew.
Tatjana Schülke's works, with their surprising external perspectives, inner life and protuberances, organic and architectural references, continue a non-orientable manifold. In mathematics, this is perhaps most famously exemplified by the Mobius strip and its derivations. In the artist's oeuvre, this exemplary band is permitted to expand into unimaginable agglomerations, interconnections and cloudy formations that gently bring together both stiff and soft qualities and make perceptible that which resonates between the symbols that are paired with every object. Completely detached from constructive constraints, linear processes appear in free rhythms, tightly bundled, loosely compressed or pupated and, as it were, scripturally or graphically incorporated into a relief, and – in large dimensions – seemingly loosely interwoven with the surrounding architecture and constructed space.
On any scale, ideas and strands of thought grow into spatial images, presenting themselves as nodal points, spaces of thought and interwoven spaces of association. Exemplary are the artist’s most recent Kunst am Bau (“percent for art”) projects – for example, “The Red Rope”, an architectural, oversized red rope, which seems to position itself casually around the notional centre of an open, transparent architecture inspired by shipbuilding. It thus ingeniously keeps its users, who are constantly asked to change position, on one spot and playfully invites them to pull on a strand. It knows how to undo fixed patterns of thought like knots. In short, even the most complex coexistence is visualised in timeless images, similar to a signal-red speech-bubble-like cloud, which takes the digital “cloud” in another education centre out of the barely tangible virtual sea of clouds and holds it, bright red, over our heads whilst analogously locating it in its familiar characters and linguistic possibilities.
The search for and curiosity about what lies within and behind forms initially led the artist from painting to relief sculptures, which she constructed from KAPA boards, evocatively creating a dialogical intertwining of form and emptiness, outline and surface, light and shadow, and material and immaterial impulses. She hence laid the foundations for working with sculpture. She subsequently produced object-like reliefs and sculptures that, by playing with materials, both questioned and reinvented the game of oppositions and the expectations we bring to it.
In her present groups and series of works, both logical and accidental juxtapositions emerge. Mysterious organisms develop their own lives – close together or wide open, in rough order, by chance, decisively, flexibly, fixed or constructed. Inner stability shows itself as pliant intertwining. Both purposeful, direct circular pipes and limp tentacles point outwards and into the dark, communicating something from deep within and creating unthought-of connections to the world. Linear measurements navigate the viewer with centimetre precision into a thicket of impenetrable grid structures that escape all calculation. Motifs made of lines or plump spherical forms pose questions about relationships and belonging together. In loose layers positioned over or alongside each other they lead the gaze towards their origins – towards fabric, cloth or textual fragments – so as to end up simply being themselves, or to render a multitude of surface modulations visible in the exchange of light and shade. In other places thick clumps of sharp spikes sprout from soft, organic curves. Plump bodily forms spring from angular cubes. A field of spikes sits directly alongside spongy material with open pores and hence finds an ideal partner, whilst in other places a dripping mass, slender rings and unmanageable tassels solidify into pure colour. Unexpected life emerges from standardised green vases and organic sponges or other quotidian utensils from the overabundant pool of the world such as never-before-seen, tightly woven systems within which playful stringencies of form and content lead accurately and often with amusing irony to new perceptual impulses.
Each material produces its own surprising visual experiences and knowledge that – drenched in colour, pigment, glue or wax – escape traditional logic, expectations or gravity and transform into something new that astonishes, and whose tension derives from the interplay of energy, form and the colouring that goes with them. Immersed in a restricted palette of colours, from waxy transparency to brittle white, bright grey, black, green, subdued turquoise and a huge spectrum of reds (which shimmer between the tones of skin and signal), these works tell us of time, space, continuity and of a moment within the work, frozen amid the expansive intertwinings of external and internal impulses with which Tatjana Schülke evokes the possible in such a lively and sensitive fashion. There is no exterior without an interior.
Sebastian Redecke,
Redakteur der Architekturzeitschrift BAUWELT
und Cousin der Künstlerin
Im Leben von Tatjana Schülke nimmt die Neugier einen breiten Raum ein. Sie zeigt sich mir vor allem in ihrer Begeisterung und Freude an Objekten jeglicher Art und deren Materialbeschaffenheit, die sie inspiriert, modifiziert und verwandelt. Sie bilden eine Basis für ihre Arbeiten.
Tatjana Schülke ist umgeben von Dingen, die sie liebt, mit denen sie sich verbunden fühlt und die eine Geschichte erzählen. Darunter befinden sich auch vertraute Alltagsgegenstände. Aus diesen entstand eine Serie kleiner Wandobjekte mit Zollstöcken, die sie mit einer subtilen Ordnung plastisch auf eine andere Ebene hebt. Ebenso entstanden Wandobjekte auf der Basis unzähliger kleiner Gummibänder, die kaum noch als solche erkennbar sind. Eine faszinierende, sensibel komponierte Arbeit mit kleinen Nuancen, die den genauen Betrachter in Erstaunen versetzt und die wie viele ihrer Werke durch räumliche Kompositionen eine ganz andere, nun sehr plastische, niemals aufdringliche Kraft erlangt. Ihre Arbeiten der letzten Jahre basieren auf ordnenden, strukturierenden und raumbildenden Ideen. Sie sind von Leichtigkeit, von einer gewissen Fragilität geprägt. Bei den größeren plastischen Arbeiten gesellt sich das technisch-konstruktive Thema hinzu, das Tatjana Schülke mit vielen Studien am Objekt perfektioniert. Es können sogar statische Herausforderungen sein, die von ihr regelrecht erforscht werden, wie es die zwei großen Installationen in dänischen Wissenschaftszentren vor Augen führen.
Tatjana Schülke liebt den Austausch. Sie erzählt uns allen temperamentvoll ihre Erlebnisse mit ihren Objekten, die sie umgeben und öffnet sich mit großer Herzlichkeit dem Miteinander, den vielen ihr in Freundschaft verbundenen Menschen, die sie voller Enthusiasmus und mit großer Offenheit immer wieder neu in ihre Beobachtungen und in ihre künstlerische Welt einbindet.
All dies ist als Hintergrund unerlässlich, um in jede ihrer Arbeiten tiefer eintauchen. Eine deskriptive Betrachtung ist viel zu wenig und erfasst nicht das Wesentliche.
Diese Publikation fasst ihre Plastiken, Wandobjekte, Reliefs und die zwei großen Rauminstallationen in Dänemark zusammen. Sie verschmelzen wie selbstverständlich zu einer Einheit von großer Prägnanz.
Sebastian Redecke,
Editor of architecture magazine BAUWELT
and cousin of the artist
In the life of Tatjana Schülke, curiosity plays a significant role. To me, she shows it above all in her enthusiasm for and joy in objects of every kind, and in their material characteristics, which inspire her, and which she modifies and transforms. They form the basis for her work.
Tatjana Schülke is surrounded by things that she loves, things she feels connected to and which tell a story. And these include familiar everyday objects. From such things, she created a series of small wall objects made of yardsticks, which she elevates to another level in a subtle arrangement that lends them something sculptural. In a similar process, other wall objects have been created using countless small elastic bands, their original form only barely recognisable. A fascinating, sensitively composed work with small nuances that throws the onlooker into a sense of wonderment, and which, like many of her works, achieves an impact through its spatial composition that is different, at once very sculptural, and powerful but never overpowering.
Her works from recent years are based on regulative, structuring and space-filling ideas. They are marked by lightness, by a certain fragility. Her larger, plastic works are accompanied by a technical-constructive theme with which she has reached perfection through many studies carried out on the object. She might even be examining static challenges, as the two large-scale installations in Danish research centres so clearly show us.
Tatjana Schülke loves exchange. With gusto, she tells all of us about her experiences in her objects, which surround her, and in them she opens herself with great warmth towards togetherness, towards the many people that are connected with her in friendship, whom she brings in again and again to her observations, to her artistic world, full of enthusiasm and with great openness.
All of this is vital as background, so that one can immerse oneself deeper in her works. A descriptive observation is far too little and does not touch upon the essential.
This publication includes her sculptures, wall objects, reliefs and the two large room installations in Denmark. They merge together naturally to from a unity of great concision.
Matthias Reichelt,
freier Kulturjournalist
„Endlich mal wieder nichts verstehen“1, lautete der Titel einer Kampagne, die die Werbeagentur Publicis Pixelpark für den Hamburger Kunstverein Anfang 2017 entwickelt hat. Ein solcher Satz betrifft eine Art von Kunst, die über sich hinausweisen will, auf das Politische zielt und ein kontextuelles Wissen voraussetzt. Davon hebt sich eine andere Sorte von Kunst ab, deren ästhetischer Charme erst einmal voraussetzungslos funktioniert, um dann bei intensiverer Beschäftigung die Assoziationsmaschine bei den Betrachtern anzuwerfen. Solche Kunstwerke begeistern, betören, irritieren aufgrund ihrer ästhetischen Erscheinung und ihrer visuellen Kraft. Diese Kunst betreibt auch Tatjana Schülke. Ihre Objekte und Skulpturen repräsentieren nichts außer sich selbst. Sie stehen und liegen auf Sockeln, hängen an der Wand ohne jede über sich hinausgehende Behauptung. Sie sind einfach präsent, wollen betrachtet, bestaunt, intuitiv begriffen werden, im Sinne eines haptischen Verstehens. Dem intuitiven Verstehen oder „Begreifen“ folgt dann ein Prozess, den Ernst Bloch für ein anderes Genre, nämlich den Detektivroman, so überzeugend beschrieben hat: „Etwas ist nicht geheuer, damit fängt das an. Forschend Aufdeckendes ist freilich nur das eine, es geht aufs Woher. Forschend Heraufbildendes wäre das andere, es geht aufs Wohin.“2
Tatjana Schülkes Objekte und Skulpturen bergen das Geheimnis ihres Materials, geben Rätsel auf, denn nur „im Gewohnten bewegt man sich blind“.3 Stuck in Red lautet der Titel einer Skulptur, die sich als filigranes und luzides Werk präsentiert. Ein Körper, dessen Umrisse sich aus einem roten Netz, bestehend aus unterschiedlichem und nie gleichförmig geratenem Lochwerk, formen. Das längliche Objekt wölbt sich nochmals nach innen und umschließt somit einen röhrenähnlichen Raum. Farbe und Form fügen sich zu einer imposanten Figur, die assoziativ an molekularbiologische Strukturen denken lässt.Form follows function lautete ein Gestaltungsprinzip, das oftmals dem Bauhaus zugeschrieben wird, weil es von Teilen seiner Vertreter beherzigt wurde. Indessen geht die Proklamierung dieser Forderung auf einen Essay des US-amerikanischen Bildhauers Horatio Greenough in der Mitte des vorletzten Jahrhunderts zurück.4
In der Kunst spielt die Funktion keinerlei Rolle, Kunst ist von einer unmittelbaren Funktion befreit. Dennoch erwähne ich das in Design und Architektur hochgeschätzte Prinzip im Zusammenhang mit Tatjana Schülkes Skulpturen, da sie auf Material zurückgreift, dessen Existenz einem blanken Utilitarismus und Funktionszwang unterworfen ist. Läden für Künstlerbedarf liegen eher nicht im Fokus ihres Interesses. Das geeignete Material, aus dem die Künstlerin ihre raffinierten Skulpturen und Objekte baut, findet sie in den großen Hallen der Baumärkte. Industriell hergestellte Massenware, ob aus Kunststoff, Metall oder Papier, bieten vielfältige Arten der Modifizierung und der produktiven und künstlerischen Zweckentfremdung. Tatjana Schülke ist eine Meisterin der Zweckentfremdung und greift unter anderem auf Styrodur zurück, einem Dämmstoff, der beim Hausbau im Dachbereich eingesetzt wird. Die Beschaffenheit von Pappwabenplatten ist für ihre skulpturalen Objekte und Bilder ebenso interessant wie Produkte, die nicht als Material zum Verbauen, sondern fertig zum Einsatz beim Endverbraucher bereitstehen. Allerdings werden diese letztgenannten industriellen Produkte, darunter so schnöde Instrumente aus dem Sanitärbereich wie Saugglocken aus Gummi, im Volksmund auch als Pömpel bekannt, nicht im Duchamp’schen Sinne des Readymades verwandt, sondern zusammen mit anderem Material zu einem Werk weiterverarbeitet. Eine Skulptur besteht aus einer Akkumulation vieler Pömpel, die mit ihren Öffnungen und der rosaroten Farbe an ein chirurgisch herausgetrenntes Herz erinnert.
Tatjana Schülke erliegt dem profanen Charme der Formen, der Vielseitigkeit und Flexibilität und der Struktur des Materials, um sich derer zu bedienen, sich inspirieren zu lassen und letztlich daraus ihre ästhetisch spannenden Objekte zu komponieren. In den meisten Fällen verbergen die Werke dank der künstlerischen und regelrecht zauberhaften Verarbeitung sehr erfolgreich die Stofflichkeit des innewohnenden Ursprungs. Zu den Ausnahmen gehören die quadratischen Wandskulpturen aus Zollstöcken. Eine davon gestaltete Schülke zu einem konstruktivistisch anmutenden und mehrschichtigen wie labyrinthischen Gitterwerk. Dieses vorwiegend weiße Quadrat verbirgt seine Herkunft nicht, denn Schülke hat die zweifarbige Textur der Maßskalen als Bildelement in dieses Wandobjekt integriert und der abstrakten Form somit eine Note mit realistischer Figuration hinzugefügt. Etwas anders verhält sich das bei dem Relief als Farbspiel in diversen Rot- und Weißtönen. Die runden und verschiedenfarbigen Enden der unterschiedlich beschnittenen Zollstockglieder sind zur Bildoberfläche komponiert. Diese wirkt wie die Luftaufnahme einer mittelalterlichen Stadt, in der die Häuser sich eng aneinanderschmiegen. Ein Blick von der Seite offenbart auch hier die Reste der Maßskalen. Der Begriff der Spannung kann bei Schülkes Arbeiten auch auf deren ästhetische Oberflächen Anwendung finden, da dort optische Gegensätze gleichberechtigt aufeinanderstoßen. Poröse neben glatter Oberfläche, dunkle neben heller Farbgestaltung, Positivform neben Negativform als Beispiele fügen den Objekten eine innewohnende und reizvolle wie spannungsgeladene Beziehung zwischen den kontrapunktischen Elementen hinzu.
Ein grünes, liegendes Objekt offenbart einen geschlossen hermetischen Block auf der einen und auf der anderen Seite ein kompliziertes, in mehreren extrem spitzen Elementen auslaufendes Innenleben. Handelt es sich womöglich um einen Stecker, der eines Komplementärs bedarf? Massivität, Glätte und Flächigkeit und dann ein Konglomerat an konisch zusammenlaufenden Spitzen. Das signalisiert sowohl Abwehr als auch höchste Form der Verletzbarkeit, garniert mit einem Schuss Aggressivität. In welcher Reihenfolge sich Betrachten, Erstaunen über Form, die visuellen Rätsel, das gedankliche Abtasten nach Assoziationen und konnotativen Referenzen abspielen, ist wahrscheinlich je nach betrachtender Person, ihrer Kunstnähe oder -ferne verschieden. Doch irgendwann stellt sich die Frage nach der Materie des Werks und seiner Beschaffenheit. Und wenn Kunstwerke Fragen über Gegenstand und Material evozieren, kann das ein guter Einstieg sein für eine weitere Auseinandersetzung mit dem Werk. Und langsam dämmert es und die Festplatte des Gehirns ruft das Stichwort Friedhof auf, denn die grünen Spitzen, die aus runden Körpern hervortreten, sind die Unterseiten sogenannter Grabvasen aus Polyethylen, jeweils mit Spießen ausgestattet zwecks Verankerung im Erdreich des Grabes.
Zu Clustern geschichtete Elemente rufen Bilder von Wachstum durch Zellteilung ab und erinnern damit an natürliche Vorgänge sowohl in mikro- wie auch makrobiologischen Dimensionen. Aus dem Meer angespülte Pflanzenteile formte und trocknete Schülke zu Kugeln, bevor sie die fellähnliche Oberfläche mittels Ponal härtete und die akkumulierten Teile zu einer Skulptur montierte, die die Assoziation von Atomclustern und Wachstum evoziert. Bei dem gewundenen, schlauchförmigen Körper, engmaschig mit bedrohlich wirkenden weißen Stacheln besetzt, könnte es sich um ein aus der Tiefe des Ozeans heraufbefördertes Korallentier handeln. Oder ist es eher eine Gift absondernde und fleischfressende Pflanze? Tatjana Schülke gefällt das Spiel der freien Assoziation, das ihre Arbeiten bei den Betrachtern auslöst.
Ihr Werk zeichnet sich in Gänze durch die Lust am Spiel mit Material und Formen aus. Es verbindet Gegensätze in der ästhetischen Gestaltung zu spannungsgeladenen Arbeiten.
Matthias Reichelt,
freelance cultural journalist
“Finally understanding nothing”1, is the title of a campaign that the advertising agency Publicis Pixelpark developed for the Hamburger Kunstverein (Hamburg Art Association) at the beginning of 2017. It is a sentence that one could also use to talk about a kind of art that aims to extend its frame of reference beyond itself, aspires to be political and for which contextual knowledge is a prerequisite. But there is another type of art that sets itself apart from this, whose aesthetic charm first of all works completely without prerequisites, to then trigger into action the observer’s association machinery, as it were, upon more intense examination. Such works of art are exciting to look at, are beguiling, and bemuse the viewer with their aesthetic appearance and their visual power. This is the kind of art that Tatjana Schülke creates. Her objects and sculptures represent nothing but themselves. They stand or lie on bases, or hang on the wall without asserting a single claim beyond their own being. They are simply present, and they want to be looked at, wondered at, understood intuitively in the sense of a haptic understanding. Intuitive understanding or “grasping” is then followed by a process that Ernst Bloch once used so convincingly to describe another genre, namely the detective novel: “Something is uncanny – that’s how it begins. Revealing something by researching it is of course one thing and is all about discovering the where from. Researching further to deduce what is to come is the other thing, and is about the where to.”2
Tatjana Schülke’s objects and sculptures hold within them the secret of her material, present us with puzzles, because it is “only among the familiar that one moves blindly.”3 Stuck in Red is the title of one sculpture, a filigree and lucid work. A corpus whose contours are formed by a red net-like material, the holes in which are always different and never uniformly shaped. This elongated object curves in on itself, creating a tubular space in the process. Colour and form work together resulting in an imposing figure that triggers associations with structures found in molecular biology.
Form follows function is the design principle that is often ascribed to Bauhaus, because it was a principle heeded to by many Bauhaus followers. However, the demand proclaimed in these words actually goes back to an essay by US sculptor Horatio Greenough and the middle of the 19th century.4
Function plays no role whatsoever in art. Art is released from serving any immediate function. And yet, I have mentioned this principle – which is thought very highly of in design and architecture – in connection with the sculptures of Tatjana Schülke, as she uses material whose existence is subjugated to a naked utilitarianism, forced to be functional, as it were. Stores selling art supplies therefore don’t tend to be that interesting for Tatjana Schülke. The material she prefers for creating her ingenious objects and sculptures is to be found in the huge halls of DIY stores. Industrially produced mass goods, whether plastic, metal or paper, provide for manifold ways to be modified, and serve well the act of productive and artistic misappropriation. Tatjana Schülke is a master of misappropriation and uses, among other things, styrodur, an insulating material that is generally used in house construction for roofing. The consistency of paperboard honeycomb is just as interesting for her sculptural objects and pictures as products that are not supplied as material but are ready-to-use for the end consumer. However, this latter group of industrial products, which include such unattractive instruments as the rubber plunger used in sanitary work, are not applied in the same way as a Duchamp Readymade, but are processed together with other materials to create a work. One sculpture consists of an accumulation of several plungers that, with their openings and red-coloured rubber, are reminiscent of a heart that has been removed surgically from the body. Tatjana Schülke succumbs to the charm of the forms, to the versatility and flexibility and structure of the material, in order to serve herself from it, be inspired by it and, ultimately, in order to compose her aesthetically fascinating objects from it. In most cases, the works very successfully conceal the materiality of their intrinsic origin, thanks to the artistic and the absolutely magical way in which the material has been worked on and worked with. Exceptions here are the square wall sculptures made of yardsticks. Schülke has designed one of these in such a way as to transform it into a constructivist-like and multi-layered, as well as labyrinthine piece of latticework. This mainly white square does not conceal its origin, as Schülke has integrated the two-coloured texture of the measuring markings into the wall object as a visual element, thus adding to the abstract form a touch of realistic figuration. The colour-play in various tones of red and white in the relief behaves somewhat differently. The rounded and variously coloured ends of the differently cut sections of yardstick are composed to create a visual surface. The image thus created reminds one of the aerial view of a medieval city with the houses snuggled closely together. Viewing it from the side also reveals the remainder of the measuring markings here. The term ‘tension’ can also be used in Schülke’s works to refer to their aesthetic surfaces, as visual contrasts encounter one another there on an equal footing. We see, for example, porous alongside flat surfaces, dark alongside light colour schemes, positive form next to negative form, which add to the objects an intrinsic and appealing, as well as tension-filled relationship between the contrapuntal elements. A green, lying object presents us with a closed, hermetic block on the one hand, and a complicated interior squeezing outwards in the form of several extremely sharp elements on the other. Is it perhaps a plug that requires its complementary? Solidity, smoothness and flatness, and then a conglomeration of sharp ends tapering to converge with one another. This signalises not only something defensive, but also the highest form of vulnerability, garnished with a touch of aggression.
The order in which the acts of looking, wondering at the form, the visual puzzle, the mind’s reaching out for associations and connotative references unfold is no doubt different, depending on the person looking, their proximity or their distance to art. However, at some point the question arises concerning the material of the work and its properties. And when works of art provoke one to ask questions about object and material, this can be a good point of entry for grappling more intensely with the work itself. And slowly it dawns upon us, and our brain retrieves from its hard drive the word ‘cemetery’, recognizing the sharp green tips protruding out of the round bodies as the bottoms of polyethylene grave vases, which are spiked so that they can be driven into the earth surrounding our loved ones’ last resting place.
Elements layered into clusters evoke images of the growth created by cell division, reminding one of natural processes in both micro- and macro-biological dimensions. Schülke dried plant parts washed up by the sea, shaping them into balls before hardening the fur-like surface using glue and mounting the accumulated parts to make a sculpture that evokes in our minds associations with atom clusters and growth. The winding, hose-like corpus, covered densely with menacing-looking white spikes might just be a coral creature swept up from the depths of the ocean. Or perhaps it is a meat-eating plant that secretes poison? Tatjana Schülke loves to play with the free associations that her works trigger in the onlooker.
Her work is marked as a whole by a love of playing with material and forms. It brings together in its aesthetic design the contradictory, bringing forth works that are charged by tension.
1 http://www.publicmarketing.eu/news/detail.php?rubric=News&nr=19538
[zuletzt abgerufen am 14.12.2017]
2 Ernst Bloch, Philosophische Ansicht des Detektivromans.
In: Derselbe: Verfremdungen I. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1970 [1962] S. 60.
3 Albrecht Fabri, Kleine Wortguirlande für Max Ernst.
In: Ingeborg Fabri, Martin Weinmann, Albrecht Fabri – Der schmutzige Daumen.
Gesammelte Schriften. Frankfurt/M.: Zweitausendeins 2000, S. 131.
4 Vgl. Erle Loran, Introduction, in: Harold E. Small (Hrsg.),
Horatio Greenough: Form and Function: Remarks on Art, Design, and Architecture,
Berkely, Los Angeles, London: University of California Press, 1947, S. 17.
1 http://www.publicmarketing.eu/news/detail.php?rubric=News&nr=19538
[last accessed on 14.12.2017]
2 Ernst Bloch, Philosophische Ansicht des Detektivromans.
In: Derselbe: Verfremdungen I. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1970 [1962] p. 60.
[The original quotation in German – “Etwas ist nicht geheuer, damit fängt das an.
Forschend Aufdeckendes ist freilich nur das eine, es geht aufs Woher.
Forschend Heraufbildendes wäre das andere, es geht aufs Wohin.”
was translated by the translator herself for this text.]
3 Albrecht Fabri, Kleine Wortguirlande für Max Ernst.
In: Ingeborg Fabri, Martin Weinmann, Albrecht Fabri – Der schmutzige Daumen.
Gesammelte Schriften. Frankfurt/M.: Zweitausendeins 2000, p. 131.
4 See Erle Loran, Introduction, in: Harold E. Small (publ.),
Horatio Greenough: Form and Function:
Remarks on Art, Design, and Architecture, Berkeley, Los Angeles, London:
University of California Press, 1947, p. 17.
Dr. Birgit Möckel,
Kunsthistorikerin
Zum Greifen nah zeigen sich die Werke von Tatjana Schülke. Ihre Objekte setzen sinnlich taktile Reize, (ver)locken mit allem, was an ungeahnten Möglichkeiten in ihnen steckt und wissen sich doch vor zu viel Nähe und Einsicht zu schützen. Mit einem sensibel austarierten Spannungsfeld aus Form, Material und Intuition eröffnen die Arbeiten weite Wahrnehmungs- und Erfahrungsräume in einem beziehungsreichen Kosmos kommunikativer und durchaus lebensnaher Prozesse und Strukturen.
Ob schichtenreich gebaut und geschnitten, modelliert oder mit Versatzstücken aus dem Alltag zu anziehenden Werken verwoben – immer werden Grenzen ausgelotet: zwischen innen und außen, im Mit- und Gegeneinander von Stofflichem und Immateriellem, von Gravitationskräften, Materialeigenschaften und – nicht zuletzt – Erwartungshaltungen, die mit Leichtigkeit und Freude an der Verwandlung unterwandert werden und vermeintlich Bekanntes neu erfahrbar machen.
Tatjana Schülkes Arbeiten führen mit überraschenden Außenperspektiven, Innenleben und Ausstülpungen, organischen und architektonischen Bezügen eine nicht orientierbare Mannigfaltigkeit fort, die sich in der Mathematik vielleicht beispielhaft im Möbiusband und seinen Ableitungen manifestiert. Im Werk der Künstlerin darf dieses modellhafte Band weiter wachsen – zu ungeahnten Ballungen, Vernetzungen oder wolkigen Gebilden, die Starres und Weiches federleicht zusammenführen und erlebbar machen, was zwischen den mit all ihren Objekten gepaarten Zeichen mitschwingt. Völlig losgelöst von konstruktiven Vorgaben, zeigen sich lineare Abläufe in freien Rhythmen, eng gebündelt, lose komprimiert oder verpuppt und gleichsam skriptural oder graphisch einem Relief einverleibt sowie – in großen Dimensionen – scheinbar lose mit der Architektur und dem gebauten Raum verwoben.
In jedwedem Maßstab wachsen Ideen und Gedankenstränge zu räumlichen Bildern, zeigen sich als Knotenpunkte, Denk- und mit ihnen verwobene Assoziationsräume. Beispielhaft sind die jüngsten Kunst am Bau-Projekte der Künstlerin. So „The Red Rope“, ein architekturbezogenes überdimensionales rotes Tau, das sich locker um ein imaginäres Zentrum einer an den Schiffsbau angelehnten offenen, transparenten Architektur zu legen scheint, damit ideenreich seine zu steten Ortswechseln aufgerufenen Nutzer zusammenhält und sie spielerisch motiviert, an einem Strang zu ziehen oder festgefahrene Denkmuster wie Knoten zu lösen. Kurz: Auch das komplexeste Miteinander wird in zeitlosen Bildern visualisiert, ähnlich einer signalroten sprechblasengleichen Wolke, die in einem anderen Bildungszentrum die digitale „Cloud“ aus dem kaum greifbaren virtuellen Wolkenmeer holt und in bekannten Lettern und ihren sprachlichen Möglichkeiten über den Köpfen der Menschen leuchtendrot fasst und analog verortet.
Die Suche und Neugier nach dem, was in und hinter den Formen steckt, führte die Künstlerin von der Malerei zunächst zu reliefierten Bildern, die sie mit Kapa-Platten aufbaute, aus denen sie ein dialogisches Miteinander von Form und Leere, Umriss und Fläche, Licht und Schatten, materiellen und immateriellen Impulsen beziehungsreich schnitt und formte. Damit war das Fundament zu skulpturalen Arbeiten gelegt. In der Folge entstanden objekthafte Reliefs und Skulpturen, die mit und am Material das Spiel der Gegensätze und damit verwobene Erwartungshaltungen immer neu ausloten und in Frage stellen.
In aktuellen Werkblöcken und Reihungen öffnen sich so folgerichtige wie zufällige Nahtstellen. Geheimnisvolle Organismen entwickeln ein Eigenleben: ganz dicht oder weit offen, in loser Ordnung, zufällig, entschieden, flexibel, gefestigt oder gebaut. Innere Stabilität zeigt sich als schmiegsames Miteinander. Kreisrunde Rohre führen zielsicher, geradewegs oder erschlafften Tentakeln gleich nach außen und ins Dunkel, um aus dem tiefsten Inneren zu kommunizieren und ungeahnte Verbindungen in die Welt zu knüpfen. Maßeinheiten navigieren den Betrachter zentimetergenau in ein Dickicht von undurchdringlichen Gitterstrukturen, die sich jedem Kalkül entziehen. Lineare oder in prallen Kugelformen angelegte Motive eröffnen Fragen nach Zusammenhängen und Zusammengehörigkeit. Sie lenken den Blick in lose über-, neben- oder aneinander gelegte Schichten auf ihre Ursprünge, auf Gewebe, Stoffliches oder Textfragmente, um darüber hinaus einfach sich selbst zu sein oder im Wechsel von Licht und Schatten eine Vielzahl an Oberflächenmodulationen erfahrbar zu machen. Andernorts sprießen dicht an dicht spitze Stacheln aus weichen organischen Rundungen. Pralles Leibliches quillt aus kantigen Kuben. Ein stacheliges Feld setzt sich just neben offenporiges schwammiges Material und findet so den idealen Partner während an anderer Stelle eine tropfende Masse, feingliedrige Ringe und widerspenstige Fransen in purer Farbe erstarren. Unvermutet befruchten sich genormte grüne Steckvasen und Pflanzenschwämme oder andere Alltagsutensilien aus dem überreichen Fundus der Welt als so nie gesehene, eng verzahnte Systeme, in denen spielerische Stringenz von Form und Inhalt treffsicher und nicht selten lustvoll hintersinnig zu neuen Wahrnehmungsimpulsen führen.
Jedes Material setzt eigene, überraschende Seherfahrungen und Erkenntnisse, die, in Farbe, Pigment, Klebstoff oder Wachs getränkt, sich herkömmlichen Erwartungen, Logik oder Gravitationskräften entziehen und zu Neuem mutieren, das seine Spannung aus dem Zusammenspiel von Energie, Form sowie dem dazu gehörigen Kolorit erhält und Staunen macht. Getaucht in eine reduzierte Farbskala von wächserner Transparenz, über brüchigem Weiß, hellem Grau, Schwarz, Grün, gedämpftem Türkis bis zu einer größeren Bandbreite an Rottönen – die zwischen Haut- und Signalcharakter changieren – erzählen die Werke nicht zuletzt auch von Zeit, Raum, Kontinuität und einem im Werk festgehaltenen Augenblick inmitten des weitgespannten Miteinanders äußerer wie innerer Impulse, die Tatjana Schülke auf sehr lebendige Weise mit großer Sensibilität für das Mögliche evoziert: Es gibt kein Außen ohne Innen.
Dr. Birgit Möckel,
art historian
The works of Tatjana Schülke invite a tactile response. Her objects generate sensual stimuli, they entice with all the unimagined possibilities that reside in them, and yet they know how to protect themselves from too much proximity or insight. With their sensitively balanced tensions between form, material and intuition, the works open vast spaces of perception and experience in a relationship-rich cosmos of communicative and thoroughly lifelike processes and structures.
Whether built up in slices, layer upon layer, modelled or interwoven with moveable pieces from everyday life, boundaries are always explored: between the interior and the exterior, in the coexistence and opposition between material and immaterial, between gravitational forces, material properties and expectations that are infiltrated with a lightness and joy in transformation and that make from the seemingly known something to be experienced anew.
Tatjana Schülke's works, with their surprising external perspectives, inner life and protuberances, organic and architectural references, continue a non-orientable manifold. In mathematics, this is perhaps most famously exemplified by the Mobius strip and its derivations. In the artist's oeuvre, this exemplary band is permitted to expand into unimaginable agglomerations, interconnections and cloudy formations that gently bring together both stiff and soft qualities and make perceptible that which resonates between the symbols that are paired with every object. Completely detached from constructive constraints, linear processes appear in free rhythms, tightly bundled, loosely compressed or pupated and, as it were, scripturally or graphically incorporated into a relief, and – in large dimensions – seemingly loosely interwoven with the surrounding architecture and constructed space.
On any scale, ideas and strands of thought grow into spatial images, presenting themselves as nodal points, spaces of thought and interwoven spaces of association. Exemplary are the artist’s most recent Kunst am Bau (“percent for art”) projects – for example, “The Red Rope”, an architectural, oversized red rope, which seems to position itself casually around the notional centre of an open, transparent architecture inspired by shipbuilding. It thus ingeniously keeps its users, who are constantly asked to change position, on one spot and playfully invites them to pull on a strand. It knows how to undo fixed patterns of thought like knots. In short, even the most complex coexistence is visualised in timeless images, similar to a signal-red speech-bubble-like cloud, which takes the digital “cloud” in another education centre out of the barely tangible virtual sea of clouds and holds it, bright red, over our heads whilst analogously locating it in its familiar characters and linguistic possibilities.
The search for and curiosity about what lies within and behind forms initially led the artist from painting to relief sculptures, which she constructed from KAPA boards, evocatively creating a dialogical intertwining of form and emptiness, outline and surface, light and shadow, and material and immaterial impulses. She hence laid the foundations for working with sculpture. She subsequently produced object-like reliefs and sculptures that, by playing with materials, both questioned and reinvented the game of oppositions and the expectations we bring to it.
In her present groups and series of works, both logical and accidental juxtapositions emerge. Mysterious organisms develop their own lives – close together or wide open, in rough order, by chance, decisively, flexibly, fixed or constructed. Inner stability shows itself as pliant intertwining. Both purposeful, direct circular pipes and limp tentacles point outwards and into the dark, communicating something from deep within and creating unthought-of connections to the world. Linear measurements navigate the viewer with centimetre precision into a thicket of impenetrable grid structures that escape all calculation. Motifs made of lines or plump spherical forms pose questions about relationships and belonging together. In loose layers positioned over or alongside each other they lead the gaze towards their origins – towards fabric, cloth or textual fragments – so as to end up simply being themselves, or to render a multitude of surface modulations visible in the exchange of light and shade. In other places thick clumps of sharp spikes sprout from soft, organic curves. Plump bodily forms spring from angular cubes. A field of spikes sits directly alongside spongy material with open pores and hence finds an ideal partner, whilst in other places a dripping mass, slender rings and unmanageable tassels solidify into pure colour. Unexpected life emerges from standardised green vases and organic sponges or other quotidian utensils from the overabundant pool of the world such as never-before-seen, tightly woven systems within which playful stringencies of form and content lead accurately and often with amusing irony to new perceptual impulses.
Each material produces its own surprising visual experiences and knowledge that – drenched in colour, pigment, glue or wax – escape traditional logic, expectations or gravity and transform into something new that astonishes, and whose tension derives from the interplay of energy, form and the colouring that goes with them. Immersed in a restricted palette of colours, from waxy transparency to brittle white, bright grey, black, green, subdued turquoise and a huge spectrum of reds (which shimmer between the tones of skin and signal), these works tell us of time, space, continuity and of a moment within the work, frozen amid the expansive intertwinings of external and internal impulses with which Tatjana Schülke evokes the possible in such a lively and sensitive fashion. There is no exterior without an interior.